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Stephan Leifeld:

Gewalt an Schulen ist nicht „neu“



Am 20. April 1999 ging eine Nachricht wie ein Lauffeuer um die geschockte Welt: "Der Amoklauf an der Columbine High School", auch als Schulmassaker von Littleton bekannt. An der Columbine High School in Columbine, einem nahe Littleton gelegenen Vorort von Denver im US-Bundesstaat Colorado, erschossen zwei Abschlussklässler innerhalb einer Stunde zwölf Schüler im Alter von 14 bis 18 Jahren, einen Lehrer und sich selbst. …Seit dem Amoklauf hat es bis heute weitere heftige Eskalationen von Gewalt an Schulen gegeben. Dabei müssen wir nicht weit entfernt in den USA suchen, sondern auch an Schulen in Deutschland gibt es immer häufiger zunehmende Gewalt. Laut einer neuen FORSA-Umfrage unter Schulleiterinnen und Schulleitern ist besonders NRW davon betroffen.


Die Täter in Colombine – der 18-jährige Eric Harris und der 17-jährige Dylan Klebold – hatten den Massenmord monatelang vorbereitet und nicht als Amoklauf, sondern als Bombenanschlag auf ihre Schule geplant, bei dem mehrere hundert Menschen sterben sollten. Anschließend kam heraus, dass infolge eines technischen Fehlers, die von ihnen zu diesem Zweck in der Schulcafeteria platzierten Bomben jedoch nicht explodierten. Mit einem geänderten Plan begannen die Beiden dann auf ihre Mitschüler zu schießen. Dabei konnten ihre Motive nicht komplett aufgeklärt werden. Das Thema war zu der damaligen Zeit nicht einmal unbekannt... oder neu.


Im Anschluss an eine umfangreiche Studie zum Thema „Gewalt an der Schule“ entwickelte der norwegische Psychologe Dan Olweus bereits Ende der 80er Jahre ein inzwischen international bekanntes, schulumfassendes Interventionsprogramm zur Minderung aggressiven Verhaltens. Es handelt sich - trotz der wichtigen gesellschaftlichen Aufgabe - bei diesem speziellen Programm um eines der Wenigen, deren Wirkung wirklich gründlich überprüft wurde. Die Interventionsmaßnahmen erfolgen dabei auf drei Ebenen: Schule, Klasse und Individuum. Im Gegensatz zu vielen anderen Programmen setzt sich „Olweus“ nicht nur mit den ‘Tätern‘ auseinander, sondern analysiert detailliert die Interaktion zwischen Gewalttätern und – opfern, sowie den Einfluss der Lehrer und Eltern. Jedoch ist diese Arbeit auch schon wieder fast 30 Jahre her…


Nach dem Vorbild des seit Jahren international anerkannten Olweus-Programms setzt sich auch die Polizei bundesweit an Schulen gegen das gezielte und systematische Schikanieren physisch und psychisch schwächerer Schüler ein. Das Mehr-Ebenen Programm setzt dabei vorwiegend am Schul- und Klassen-Klima an und bezieht alle Beteiligten eines Gewaltkonflikts ein. Dennoch nehmen die Gewalttaten an Schulen weiterhin stark zu, was bei mir Zweifel an diesem Olweus-Programm und seiner Wirksamkeit aufkommen lässt, wobei es als Grundlage für Gewaltprävention sicherlich taugt. Vielleicht ist es Zeit, diese Idee weiterzuentwickeln, scheint es mir. Dabei möchte ich einige Fragen diskutieren, damit wir uns gemeinsam diesem Thema "Gewalt an Schulen" annähern können, bevor ich auf einer eigenen Seite mein Konzept der Friedenserziehung anschließend ausführlich vorstellen möchte.

I. Was ist Mobbing eigentlich?


Nach Dan Olweus und seinem Programm von 1994 gibt es drei Schlüsselkriterien für Mobbing:

Dass …

(z. B. weil die Täter in der Überzahl oder älter + beliebter sind).


Man unterscheidet bei dem Olweus-Programm außerdem verschiedene Arten von Mobbing:



II. Wie häufig ist Mobbing?



Mobbing ist ein weit verbreitetes Phänomen, das international in allen sozialen Schichten und allen Schulformen und -größen auftritt. In einer großen repräsentativen Studie der WHO (Health Behavior of School Aged Children, HBSC) wurden beispielsweise noch 2017/2018 an deutschen Schulen mehr als 4.000 11-15-Jährige dazu befragt, wie oft sie in den letzten zwei bis drei Monaten gemobbt wurden bzw. selbst Andere gemobbt haben. Demnach waren 10% in der Schule von Mobbing betroffen, 5% haben in der Schule Andere gemobbt, etwa 3% waren online von Mobbing betroffen und 2% haben online Andere gemobbt. 2020 hat es neue Untersuchungen gegeben, mit deutlich gestiegenen Zahlen.

III. Was sind die Folgen von Mobbing?



Zahlreiche Studien zeigen, dass die Folgen für Betroffene vielfältig und einschneidend sein können. Geringes Selbstwertgefühl nimmt oft noch weiter ab, die selbstberichtete Lebensqualität ist stark eingeschränkt. Viele Betroffene fühlen sich einsam oder ziehen sich noch mehr zurück. Laut einem Großteil der Studien entwickelt etwa ein Drittel psychische Folgestörungen, vor allem Depressionen, Angststörungen, Psychosomatische Probleme (wie Schlafstörungen, Kopf- oder Bauchschmerzen), Selbstverletzung und Suizidalität. Sehr häufig kommen bei den Opfern schulvermeidendes Verhalten und schulische Leistungsprobleme hinzu. Die PISA-Studie hat sogar schon im Jahr 2015 gezeigt, dass an Schulen mit hohen Mobbingraten das Lernklima für alle negativ beeinträchtigt ist und insgesamt schlechtere akademische Leistungen erzielt werden. Es wird dabei nicht überraschen, dass auch Lehrkräfte sich durch das Thema oftmals überlastet fühlen, da ihnen zumeist Strategien im Umgang mit der Problematik fehlen. Akute Mobbingfälle stellen außerdem eine hohe zeitliche Belastung dar, der oftmals ineffektive Umgang mit der Thematik führt zu Frustration und Belastung der Lehrergesundheit. Die Jahre mit COVID und den Auswirkungen des steigenden Lehrermangels haben nicht zur Besserung dieser Situation beigetragen. Daher ist die neuerliche Umfrage von FORSA in ihrem Ergebnis eher logisch, als überraschend.

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IV. Keine Chance mehr für „Bullies“ mit Olweus?



Unter dem Motto „Keine Chance mehr für Bullies“ wirbt u.a. auch die Polizei bundesweit für das an Schulen erprobte „Anti-Bullying-Programm“ zur Gewaltprävention. Unter dem sogenannten „Bullying“ versteht man gezielte, systematische und wiederholte Schikanen physisch und psychisch stärkerer Schüler gegenüber Schwächeren: Die Täter, die „Bullies“, isolieren und attackieren bei diesem Gruppenphänomen einen oder ein paar wenige hilflose Schüler aus dem Klassenverband. Von verbalen Attacken und Demütigungen, Hänseleien bis hin zu immer wiederkehrenden körperlichen Angriffen reicht das Instrumentarium der Quälereien, dessen sich die „Bullies“ bedienen. Genau gegen diese Aggressionen wurde das Bullying-Präventions-Programm im norwegischen Bergen unter Leitung von Professor Dan Olweus entwickelt. Anlass war der Selbstmord von drei norwegischen Jungen nach anhaltendem und grobem Bullying durch Gleichaltrige.

Das international anerkannte Olweus-Programm setzt vorwiegend am Schul- und Klassenklima an und basiert auf folgenden Prinzipien:


Die einzelnen Maßnahmen des Programms betreffen:


Dieser Ansatz umfasst alle Beteiligten des Gewaltkonflikts vom Lehr- und Schulpersonal über die Eltern, Täter und Opfer bis hin zu den Mitschülern. Dabei ist entscheidend, so früh als möglich zu intervenieren und bereits die sich anbahnende Gewalt einzudämmen.

V. Entwicklung und Ursachen von Jugendgewalt



Die Ursachen, warum Jugendliche gewalttätig werden, lassen sich insgesamt über verschiedenste Faktoren ausmachen. Dabei kommen diese Faktoren manchmal in einer ungünstigen Konstellation zusammen, wenn z.B. zuhause in der Familie Gewalt als Mittel der Konfliktlösung erlebt werden. Dazu kommen im digitalen Zeitalter noch die starke Gewöhnung an Aggression und Brutalität durch den längerfristigen Konsum entsprechender Medien. Manchmal können es aber auch Anpassungsschwierigkeiten sein, beispielsweise infolge der Herkunft aus einem Kriegsgebiet - oder die Eltern haben sich einen hässlichen Trennungskampf auf dem Rücken der Kinder geliefert.

Die Erscheinungsformen sind dabei ebenso vielfältig wie die Ursachen für die verübte Gewalt. Die Bandbreite der Gewalttaten reichen von verbaler Aggression, fortgesetzter Bedrohung, versuchter Nötigung, unterschiedlich schwere Körperverletzung und Sachbeschädigung. Laut aktueller Statistiken sind auch häufiger Raubdelikte und Erpressung in diesem „Potpourri“. Immer mehr werden nun auch Eltern, Passanten oder Lehrer, Opfer von Gewalt jugendlicher Täter. Vielleicht ist das auch der Grund, warum die Beschwerde der SchulleiterInnen ernster genommen wird, als vorige Beschwerden den Tätern gleichaltriger Opfer.

VII. Jugendliche sollen Streiten lernen



Eine Diskussion ist ein offenes Gespräch. Grundlage für ein solches offenes Gespräch ist die Unbefangenheit gegenüber Thema und Gesprächspartner. Diese Unbefangenheit möchte ich in meinen Kursen der Friedenserziehung und weiteren Schulprojekten, mit Hilfe von Rollenspielen vermitteln. Nachdem der körperliche Teil "auf der Matte" dazu geführt hatte, dass die Kursteilnehmer sich der Bewusstwerdung mit Freude nun geöffnet haben, kann die Theorie altersgerecht vermittelt werden. Im nächsten Schritt lernen also die Schülerinnen und Schüler, dass eine Diskussion nicht zum Ziel hat, den jeweils anderen von der eigenen Meinung zu überzeugen.

Hier liegt leider oft der Auslöser zum Streit - der Weg zur Wut ist damit nicht weit. Mangelnde Überzeugungskraft im Sinne von Argumentation kann zur Handgreiflichkeit gipfeln. Die Worte sind zu Ende - dann verliert einer die Kontrolle und schlägt womöglich zu. Spielerisch aber mittels Vortrag wird in unseren Kursen erklärt, dass die Diskussion viele Aspekte eines Themas aufzeigen kann - aber kein Gesprächsergebnis zwingend erforderlich ist.

VI. Jugendliche brauchen Vorbilder



Eine wirksame Bekämpfung der Gewaltkriminalität bei Jugendlichen gehört zu den wichtigsten Herausforderungen unserer Demokratie. Auf der Suche nach Lebensinhalten und Vorbildern brauchen Jugendliche Halt und Orientierung. Eine zentrale Schlüsselrolle der Gewaltprävention fällt dabei der Familie zu. Hier sollten die Grundlagen für ein gutes Sozialverhalten gelegt und beispielsweise gewaltfreie Konfliktlösungen gelernt und Selbstwertgefühl entwickelt werden.

Als Familienvater kann ich gut beurteilen, wie wichtig die Familie als kleinste gesellschaftliche Einheit ist. Doch als jemand, der im Bereich der Erziehungsberatung und als Verfahrensbeistand arbeitet, kenne ich die Realität: die kleinste gesellschaftliche Einheit ist täglich in ihrer Existenz bedroht und verliert in unserer Gesellschaft immer mehr die Grundlage. 

Auch deshalb habe ich das Konzept "Friedenserziehung" entwickelt.

Die Polizei bietet im Rahmen der Gewaltprävention ein Medienpaket mit dem Titel „Abseits?!“ für die Arbeit mit Schülern ab neun Jahren an. Es beinhaltet eine DVD mit sechs Filmsequenzen zu den Themen... Verbale Aggression, Mobbing, Körperliche Aggression, Sachbeschädigung / Graffiti, Erpressung / Abzocken und „Handygewalt“. Diese DVDs sind gut gemacht und ich selbst habe diese Clips auch schon im Schulalltag mit entsprechenden Schulklassen eingesetzt. Doch diese DVDs können nur ein kleiner Teil eines Katalogs an Medien und Schritten sein, den Kindern und Jugendlichen beim Umgang mit Gewalt zur Seite zu stehen. Mittlerweile sind diese Clips nicht mehr zeitgemäß, bemerken die Kinder selbst. Außerdem kann Gewalt nicht alleine theoretisch "geklärt" werden. Sonst könnte jeder Erwachsene im Streit auch mit Argumenten und Sachverhaltsdarstellungen auskommen. Alleine die Kriege in der Welt, zeigen den Kindern die Wahrheit der Erwachsenen, was das Thema Streitkultur angeht. 

Ich gehe dafür mit den Kindern auch "auf die Matte".